Liebe Silvia, am Telefon meintest Du, die horizontalen und vertikalen Fäden von Kette-Schuss-Geweben erschienen Dir wie ordnende Gitterlinien in der Netzhaut. Und da Du als passionierte Web-Werkerin Deine Bezirke weiter ausdehnen möchtest, hänge ich an die anknüpfungsbereiten Netzränder ein paar Zeilen über den konstruktiven Schweizer Maler HANS HINTERREITER, der am 28.01.1902 in Winterthur geboren und am 15.09.1989 in San Antonio (Ibiza) gestorben ist. Glücklicherweise habe ich ihn gekannt, ich habe ihn im Krefelder Kunstverein ausgestellt und einiges über ihn geschrieben, auch seinen Artikel im Künstlerlexikon der Schweiz.
Seinen Wunsch, Maler zu werden, stellt Hans Hinterreiter zurück und studiert seinen Eltern zuliebe Architektur an der ETH Zürich. 1929-30 stößt er jedoch auf die ästhetischen Schriften des Naturforschers Wilhelm Ostwald (1853-1932), dessen Farbsystem ihm helfen soll, seine Bildkunst zu objektivieren. Denn alle 680 definierten "Farbnormen" im Gitterraum des "DOPPELKEGELS" stehen untereinander in gesetzmäßigen Beziehungen. Da Ostwald aber zu dieser Systematik der Farbenmannigfaltigkeit keine adäquate Systematik der Form mehr ausführen kann, übernimmt Hinterreiter diese gewaltige Aufgabe und entwirft in jahrzehntelanger Arbeit seine "FORMORGEL".
Nach 1930 beginnt jede Bildkonstruktion mit einem "erzeugenden Linienzug" zwischen Knotenpunkten in einem regelmäßigen Netz aus Quadraten, Drei- oder Sechsecken. Diese primäre Gerade wird vervielfältigt durch symmetrische Operationen, sie wird gedreht, gespiegelt und verschoben. Diesen Vorgang nennt Hinterreiter "kristalline Komposition", deren noch übersichtliche Flächennetze Grundlagen für meist kleinformatige Gouachen sind. Mit komplexeren Blättern nähert er sich bald den Qualitäten maurischer Ornamentik, und so gibt ihm 1934 ein Besuch der Alhambra großen Auftrieb. Jetzt wird das regelmässige kristalline Muster durch Hauptpunkte verzerrt und so im Rapport gehemmt. Nach 1942 können Brenn- oder Fluchtpunkte Verläufe im Feld zentrieren; umgekehrt entspringen Progressionen aus Quellpunkten. Die vollständig erarbeitete "NETZORGEL" kann schließlich jede starre Feldordnung in eine "organische Strukturierung" überführen. Nach Art des Lebendigen passen sich ihre kurvigen Muster konstruktiv wie auch visuell schlüssig allen Bildformaten an, besonders halbrunden und kreisförmigen. In den vernetzten Lineaturen fasst die malerische Imagination Formkomplexe und -gruppen zusammen, verknüpft sie über solche Farben, die im Ostwaldschen System gemeinsame Koordinaten haben, zu "Farbgedichten".
Hinterreiters "gesunde konkrete Augenkunst" zielt weiter auf "Laufbilder" völlig abstrakter Formen und Farben, auf ein zeitlich bewegtes "Form-Farbwandelspiel", das einer Symphonie ebenbürtig sein soll. Im Atemrhythmus gehalten und geleitet vom Ideal musikalischer Komposition sollen die Bilder einander ablösen, ihre Leitformen, Leitfarben wechseln, die Formart, Netzart und Farbart, die Tempi. Da sich die "Akkorde" der Einzelbilder flächig darstellen, belegt jedes von ihnen nur eine Position in diesem GESAMTKUNSTWERK. Diese Idee ist nie über Versuche hinaus gediehen. Sicher haben Hinterreiter Geld und technische Mittel gefehlt, seine "Farbgedichte" multimedial zu bearbeiten. Wohl hat er auch selbst gespürt, dass seine poetische Kraft nur mit Mühe seine mathematisch-konstruktive Begabung zu übertreffen vermag, und zugleich geahnt, wie schwierig jede Nachfolge sein dürfte.
Biografischer Zusatz: Nach dem frühen Tod seiner Frau Mina Salm 1939 zieht sich Hinterreiter ganz nach Ibiza (Balearen) zurück, wo er 1953 eine Farm erwirbt und selbst bewirtschaftet. In Abgeschiedenheit wächst sein malerisches Werk neben dem theoretischen, das er 1978 teilweise unter dem Titel "Die Kunst der reinen Form" publiziert. Erst mit der Ausstellung im Kunstmuseum seiner Geburtsstadt Winterthur 1973 setzt seine Anerkennung ein.
Literaturhinweis Hans Joachim Albrecht / Rudolf Koella, Hans Hinterreiter. Ein Schweizer Vertreter der konstruktiven Kunst. A Swiss Exponent of Constructive Art, István Schlégl (Hrsg.), Buchs-Zürich: Waser Verlag, 1982, 167 Seiten mit 142 Abbildungen [mit Bibliografie]. Hans Joachim Albrecht, Zu den "Farbgedichten" von Hans Hinterreiter, Stadt Bottrop (Hrsg.), [Ausstellungskatalog], Bottrop, Moderne Galerie Quadrat, 5.2.1984 - 25.3.1984, Bottrop, 1984 [mit Bibliografie]. Hans Joachim Albrecht, Grete Ostwald und Hans Hinterreiter. Eine Wahlverwandtschaft, in: Phänomen Farbe. Magazin für die Farbe, Dokumentation zum 150. Geburtstag Wilhelm Ostwalds (1853-1932). Zur Bedeutung und Wirkung der Farbenlehre Wilhelm Ostwalds, Eckhard Bendin (Hrsg./Bearb.), Düsseldorf: Verlag Phänomen Farbe, 2003, S. 42-48.
Betrachten Sie zu Hans Hinterreiters Werk den WEB-WERK-Beitrag des Malers Manfred Gräf | Berlin.
Schriften Hans Hinterreiter, Die Kunst der reinen Form. Eine Formenlehre für moderne Künstler, 5 Bde, Faksimile-Ausgabe der Originalmanuskripte von 1936-1948, 500 signierte Exemplare, Amsterdam/ Ibiza: Ediciones Ebusus, 1978, 818 Seiten mit über 700 Abbildungen. Hans Hinterreiter, Geometrische Schönheit. Entstehung und Technik, Hostmann Steinbergsche Papierfabriken (Hrsg.), Text zu einer Mappe, Celle, 1958. New Forms and Colors, in: Hans Hinterreiter, A Theory of Form and Color, Introduction by Grete Ostwald, Mercedes Molleda (Hrsg.), 500 signierte Exemplare, Barcelona: Ediciones Ebusus, 1967.
Biografie Hans Joachim Albrecht, 1938 in Wormditt/Ostpreußen (heute Orneta/PL) geboren, lebt seit 1949 in Krefeld. 1958 bis 1962 Studium an der Kunsthochschule in Kassel, danach freier Bildhauer. 1967 Lehrauftrag für künstlerische Grundlagen der Gestaltung an der Werkkunstschule in Krefeld. 1970 bis 1974 erster Dekan des Fachbereichs Design an der Hochschule Niederrhein. 1973 bis 2000 Professur mit dem erweiterten Lehrgebiet Plastische Gestaltung und Farbgestaltung. 1979 Gastkünstler der Villa Romana, Florenz. 1984 Fellow der Hand Hollow Foundation, East Chatham/NY, eingeladen von George Rickey. 1998 Verleihung der Thorn Prikker-Plakette durch die Stadt Krefeld. Einzelausstellungen (Auswahl): 1969 Galerie Schloss Ringenberg bei Wesel. 1976 Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld. 1982, 1988, 1999 Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg. 1988 Landesmuseum, Oldenburg. 2007 Skulptur, Weimar und Richard-Haizmann-Museum, Niebüll. 2008 Oberhessisches Museum, Gießen. Großskulpturen in Krefeld, Wuppertal, Wesel, Bocholt, Regensburg, Tönisvorst, Recklinghausen. Buchpublikationen über Hans Joachim Albrecht: Gottlieb Leinz, HJA, Recklinghausen 1988; Katalog HJA, MOG, Regensburg 1994; Werkbericht HJA, Skulptur und Zeichnung 1986 bis 2000, Krefeld 2001 sowie Uwe Haupenthal, HJA, Projektionen menschlicher Form. Zeichnungen und Collagen, Husum 2007. Schriften aus der Reflexion künstlerischer Arbeit: Farbe als Sprache, 1974, und Skulptur im 20. Jahrhundert, 1977, im DuMont Verlag, Köln. Mitautor der Monographien über Hans Hinterreiter (1982) und Richard Paul Lohse (1984), Waser Verlag, Zürich. Die Maske des Zeitgenossen, Anhang zum Katalog der Ausstellung HJA im Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg 1999. Skulpturen begegnen. Beiträge zur skulpturalen Wahrnehmung, Duisburg/Oberhausen 2007
Email h.-joachim.albrecht(AT)fh-niederrhein.de
WWW www.albrecht-skulptur.de