Liebe Frau Breitwieser,
nach unserem Gespräch gestern abend im Potsdamer Kunstverein fiel mir auf dem Heimweg eine Vernetzung, wenn Sie so wollen, eine Verwebung von Kunstwerken verschiedener Künstler ein, die genau den Aspekt dieser von Ihnen gewählten Metapher „Gewebe“ bespielhaft darzustellen scheinen, und mich zugleich angeregt hatten, darüber einmal zu schreiben.
Mich faszinieren die Assoziazionsreihen der miteinander befreundeten Künstler, die aufeinander zugehen, einander zuarbeiten, einander überarbeiten, einander womöglich sogar kreativ „missbrauchen“.
Der Text (deutsch / englisch) stammt aus meinem Katalog:
Originale echt/falsch, Neues Museum Weserburg Bremen, 1999. Seite 124ff. 25.07. - 24.10.1999
Er ist vielleicht etwas sehr lang, dafür aber fast so spannend wie ein Krimi!
Ich hoffe, er macht Ihnen Spaß!
Ihr Thomas Deecke
Liebe Frau Breitwieser,
hier nochmal mein Text zu Ihrer Vernetzungs-Umfrage incl. einer erläuternden Vorbemerkung und dazu die extra gesendeten Abbildungen der verschiedenen miteinander vernetzten Publikationen, die Sie dann ggf. einfügen könnten.
Es geht um ein Büchlein von Daniel Spoerri und fast alle seine Folgen .... und die Variationen der Künstlerin und der Künstler ...
Aber sehen/lesen Sie selber ....
Ich denke, das alles lässt sich sicherlich öffnen; ich habe die Abbildungen alle etwas „heruntergemeldet“ was die bytes angeht...
beste Grüße
Ihr Thomas Deecke
Alles in Allem - ein künstlerisches Lauffeuer von und mit Daniel Spoerri, Robert Filliou, Emmett Williams, Dick Higgins, Dieter Roth, Meret Oppenheim, Jean Tinguely, Roland Topor, André Thomkins und vielen, vielen anderen. (*)
„Ordnung scheint den Dingen alles Leben zu nehmen, wogegen Unordnung und Zufall sie befreien und die Erinnerung anregen.“
Daniel Spoerri
Einen Sonderfall innerhalb des betrachteten bildnerischen Bereiches zwischen Nachahmung, Kopie, Zitat, Aneignung und Fälschung bilden eine Arbeit von Daniel Spoerri mit dem Namen: 'Topographie Anecdotée du Hasard' aus dem Jahre 1961 (Sammlung Karl Gerstner) und all den vielen Werken, die daraus folgerten.
Das Werk selber ist eines von Daniel Spoerris so genannten Fallenbildern, ein Fallenbild allerdings, von dem fast alle Dinge heruntergefallen sind außer einem Lineal und einer Münze für eine der Malmaschinen des Jean Tinguely . Dieses anfänglich unscheinbare Bild besteht aus einer dunkelblauen Holzplatte, zum größten Teil bezogen mit zwei halb transparenten, so genannten Butterbrotpapieren auf dem wir neben zahlreichen Kaffeeflecken (?) viele mit dem Bleistift gezeichneten Umrisslinien und eben die beiden oben erwähnten Relikte finden. Das Bild kommt bescheiden, ja banal daher, sein Inhalt und seine mögliche Bedeutung sind schwer erkennbar. Daniel Spoerri hat es jedoch nicht nur bei der Herstellung dieses Relikte-Tischchens belassen, sondern - auf Anregung seines Freundes Robert Filliou - eine kleine Broschüre mit dem gleichen Titel dazu veröffentlicht. In dieser, zuerst auf französisch erschienenen Broschüre aus dem Jahre 1962, beschreibt er all jene Gegenstände, die sich durch Zufall am 17.Oktober 1961, um 15.45 Uhr in Zimmer 13 im 4. Stock des kleinen Hotels Carcassone, 24 rue Mouffetard in Paris auf dem kleinen Brett befanden. Es waren derer achtzig, wie man heute noch den Grundrissen der dann entfernten Objekte entnehmen kann. Eigentlich alles ganz banale alltägliche Dinge, eine Nescafébüchse, eine Flasche, Zuckerstückchen, Toastscheiben, Tassen, Öffner, ein Vorhängeschloss, eine Garnrolle, ein Schälmesser, Stecknadeln, Leimbehälter usw., Alltägliches und Heterogenes also, das - so könnte man nach dem Satz des Lautréamont: 'Poesie entsteht, wenn ein Regenschirm und eine Nähmaschine sich auf einem Seziertisch treffen' vermuten - sich durch Zufall versammelt hatte, um unter der Hand des Künstlers zu einem Kunstwerk zu werden. Anstatt aber die Dinge, so wie sie waren, zu einem Fallenbild auf der Unterfläche festzukleben, nach der Art, wie Daniel Spoerri in jenem Jahr gerade begonnen hatte seine 'realistischen' Bilder zu konstruieren, entfernte er sie - vermutlich auch zum weiteren Gebrauch - aber erst, nachdem er ihre Umrisse auf dem Papier verewigt hatte. Sodann begann er sie in einer sehr ausführlichen und assoziationsreichen Beschreibung festzuhalten, einer Beschreibung, die weit über das Registrieren des Gesehenen hinausging.
Es entstand so eine 'Kulturgeschichte des Mülls' wie der Freund und Herausgeber der ersten englischen Übersetzung, Emmett Williams, 1966 schrieb, ein „Sammelsurium als 'Konservationslexikon'“, ein „bagatellöses Monument“, wie der Herausgeber der neuesten - und inzwischen zweiten - deutschen Ausgabe 1998 Andreas Schäffler schreibt. „The topography is the maldoror of fluxus'“, nannte Alastair Brotchie, der Herausgeber der ersten britischen Ausgabe das wuchernde Werk des Daniel Spoerri und seiner Freunde in Anlehnung an den Titel Lautréamonts.
Wieland Schmied wiederum mahnt in seiner Besprechung der jüngsten Ausgabe der 'Topographie' in der Süddeutschen Zeitung vom 30.12.1998 einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde an, denn diese kleine Broschüre von 1962 hat sich inzwischen zu einem 'work in progress' entwickelt, wie wohl kaum ein Kunstwerk in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Aus der Broschüre von ca. 50 Seiten ist inzwischen ein dickes Buch von 222 Seiten geworden.
Aber gehen wir der Reihe nach vor:
Die Broschüre entstand seinerzeit zur ersten Ausstellung seiner Fallenbilder in der Pariser Galerie Lawrence. Man entschloss sich, statt einer aufwändigen Farbeinladung, ein kleines Buch zu drucken mit der Beschreibung eines Fallenbildes, von dem 'fast' alles herabgefallen zu sein schien. Am 17. Oktober 1961, genau um 15.45 Uhr machte er sich also mithilfe des Freundes Robert Filliou daran, alle 80 Objekte aufzulisten und ihre Geschichte und Geschichten zu erzählen, denn „Spoerris Wesen ist die Abweichung“, wie Wieland Schmied es ausgedrückt hat, „ständig schlägt ihm pure Banalität um in wildeste Phantastik“. Die Beschreibung wurde ergänzt durch eine ausklappbare Reinzeichnung des Bildes mit den Grundrissen und genauer Nummerierung aller achtzig beschriebenen Gegenstände. Von dieser Broschüre erschien 1990 ein Nachdruck, herausgeben vom Centre Pompidou, anlässlich der Retrospektive Spoerris mit einem Vorwort von Roland Topor, auf den wir im Folgenden noch zu sprechen kommen werden.
Zuerst hatte der amerikanische Künstler Emmett Williams das Büchlein und seine Brisanz für das Denken seiner, der 'Fluxus Generation' entdeckt. Er übersetzte es ins Englische und begann, animiert durch die Anekdotenlust des Daniel Spoerri, der von einem aufs andere gekommen war, bei der Beschreibung der Dinge eigene Kommentare in Form von Translator's Notes beizusteuern, die das Gelesene ergänzten. Der Glückliche fand in seinem Künstlerfreund und Dichter Dick Higgins einen Verleger, der sich in seiner 'Something Else Press' in New York vorgenommen hatte, genau solche Bücher zu verlegen, die andere nie drucken würden.
Den Umschlag jener Ausgabe schmückt eine Fotocollage mit dem Titel: 'Vue Cubiste de la Chambre No 13 de L'Hotel Carcassonne, 1963' von Vera Spoerri. Sie ist aus 55 kleinen Schwarz-Weiß-Fotografien des kleinen Zimmers im Hotel Carcasson zu einer Gesamtschau der 'Geburtsstätte des Fallenbildes' zusammengefügt.
Ich würde vermutlich zu sehr vom Thema abweichen, wenn ich darauf hinweisen würde, dass diese Fotocollage lange Jahre vor denen des englischen Künstlers David Hockneys entstanden ist, der die seinen aus Polaroids und später dann auch aus Farbabzügen herstellte, wie man im letzten Jahr auf seiner Ausstellung im Museum Ludwig sehen konnte ... Also lasse ich es.
An der Hotelzimmerwand kann man übrigens einige der frühen Fallenbilder entdecken, und auf der linker Seite „zwischen Tür und Gaskocher“ stand „ein Tisch, den Vera einmal blau angestrichen hatte, um mich zu überraschen“, dessen eine Hälfte zu unserem Bild wurde, wie Daniel Spoerri es im ersten Vorwort beschrieb. Von Vera Spoerri stammt übrigens auch das erhaltene Lineal, das Spoerri unter der Nr. 33 beschreibt, und das ursprünglich an der nicht mehr vorhandenen 'wurmzerfressenen'(!) Schachtel Nr. 34 lehnte. Daher also die ungewöhnliche, fast aufrechte Stellung. Hier ist dann auch darauf hinzuweisen, dass Daniel Spoerri weit mehr als nur 80 Gegenstände beschreibt, denn alle mit 34a bis 34q (also 17) beschriebenen Gegenstände befanden sich in der Schachtel. Die Fotografin gebrauchte dieses Lineal zur Herstellung der fotografischen Vergrößerungen, also vermutlich auch zur Fertigung der Vorlage unseres Fotos.
Eine der vergrößerten Versionen dieser Fotocollage hängt im Neuen Museum Weserburg dem Bild gegenüber. Sie stammt ebenfalls aus der Sammlung Karl Gerstner. Sie weist jedoch gegenüber allen anderen Vergrößerungen und auch gegenüber dem Umschlagfoto eine wichtige Besonderheit auf, denn sie ist bezeichnet - in des Wortes direktester Bedeutung - mit zahlreichen weißen Pinselzeichnungen von André Thomkins aus dem Jahre 1968, dem Freund von Daniel Spoerri und Karl Gerstner.
Thomkins nutzte in seiner ausbordenden Phantasie noch die banalsten Objekte und fotografischen Dunkelheiten oder die kleinen Ungereimtheiten, die sich aus der Zusammenfügung der Einzelfotos, und damit notgedrungen auch der Vervielfältigung einiger Gegenstände ergab, zu einer phantastisch skurrilen und poetischen bildnerischen Umdichtung. So sieht er in einem weißen Teller den Ausgang einer Höhle, durch die ein nackter Mensch ins Freie krabbelt; ein an der Wand hängender Krug wird zu einem predigenden (?) Mönch, ein gelochtes Papier zu einer Maske, die Küche mutieren zu einem Schloss auf großer Terrasse, die Bodenkacheln mutieren zu Zauberwesen usw.
Fasziniert von der englischen Ausgabe von 'Spoerri's: An Anecdoted Topography of Chance,' von 1966 meinte Diter Rot / Dieter Roth nicht nachstehen zu sollen und übersetzte das Ganze, inklusive der Kommentare des Emmett Williams, ins Deutsche, um es seinerseits um zahllose Sprachspiele, Bemerkungen, Rückverweise und ssoziationen zu vermehren. Diter Rot war einer der frühen Mitstreiter des Daniel Spoerri, der ihn in seinen Darmstädter Tagen 1957 - 59 als Regieassistent am Theater bei Gustaf Rudolf Sellner zur Mitarbeit an der Zeitschrift 'material' animiert hatte, aus der in der Folge (1960 in Paris) die Edition MAT, die ersten Edition von Multiples hervorging. (1)
Diter Rot ging noch einen Schritt weiter als der Kommentator Williams und malte sogar ein Bild nach dem im Wesentlichen ja nur zeichnerischen Vor-Bild des Daniel Spoerri, indem er es sich - bei Beibehaltung der bescheidenen Größe der Vorlage von 44 x 100 cm - verwandelt in Form einer farbenreichen abstrakten Komposition aneignete, die sich jetzt in der Sammlung Sohms in der Staatsgalerie Stuttgart befindet. Dieses Bild zierte auch den Schutzumschlag des 1968 beim Luchterhand Verlag erschienen Buches.
In dieser Ausgabe beschreibt Daniel Spoerri, der sich zum Glück weiterer Vorworte, Kommentare und Texte zu den anderen bis heute nicht enthalten konnte - obwohl er sich mehrfach selber zur Ordnung zu rufen versuchte -, eine ergänzende und kommentierende Arbeit von Meret Oppenheim, die diese ihm seinerzeit unter dem korrigierten Titel 'Re Anekdotée ...' und mit der Widmung: „Pour Daniel, Maquette pour le table avec 15 cm de neige“ zugeschickt hatte. Wenn schon Spoerri und seine Freunde die Fäden der Phantasien über einen an sich doch lächerlich kleinen Tisch mit seinen vielen lächerlich banalen Relikten eines ausführlichen und dennoch offensichtlich frugalen Frühstücks immer weiterspannen, dann - so muss sich die wundersame Meret Oppenheim gedacht haben - ist es ebenso vorstellbar, dass dieser kleine Tisch eines Tages in einer kalten Winternacht unter einer 15 cm dicken Schneedecke hätte, verschwunden sein können. Dabei stellte sich für die auf Präzision bedachte Künstlerin die wesentliche Frage, welche der mit aller Akribie von Spoerri beschriebenen Gegenstände dann noch aus der Schneemasse hervorgeschaut hätten. Meret Oppenheim ist der Einfachheit halber davon ausgegangen, dass der Tisch nicht während eines Schneesturmes hätte beschneit werden können - was in einem Hotel in Paris noch unwahrscheinlicher gewesen wäre, als es der Schneefall ohnehin wäre, auch wenn sich das Zimmer im 4. Obergeschoss befand. Sie hat sich dabei auf ihre Intuition verlassen müssen, denn die genauen Höhenmaße hat Spoerri erst auf ihre Anregung hin am 28. Februar 1962 gemessen. Wir müssen also vermuten, dass damals alle, oder doch wenigstens die unverderblichen Gegenstände noch vorhanden waren. Bei einigen Gegenständen - alle weit unter 15 cm Höhe - hat Spoerri es dann auch mit ungefähren Angaben belassen. Die Liste findet sich zuerst im Anhang der deutschen Version von Diter Rots 'Topographie' auf den Seiten 119 - 120.
Nun begab es sich aber, dass Daniel Spoerri 1995 eine Ausstellung in der 'Galerie beim Steinernen Kreuz' in Bremen bekommen sollte; und dass nur wenige Monate zuvor Udo Seinsoth, der Ehemann der Galeristin Brigitte Seinsoth, Antiquar seines Zeichens, den Nachlass des kurz zuvor verstorbenen Hein Stünke aus Köln übernommen hatte. Hein Stünke war nicht nur einer der Gründer der Kölner Kunstmesse, sondern auch Inhaber der 'Galerie Der Spiegel'. Als Galerist hatte er ab 1964, gemeinsam mit dem Gründer Daniel Spoerri und dem Fortentwickler der Edition MAT, Karl Gerstner, diese Edition auf kaufmännischere Beine zu stellen versucht, wie man ausführlich in der Dissertation von Katerina Vatsella, die am Neuen Museum Weserburg entstanden ist, nachlesen kann (2).
Im Nachlass des Hein Stünke fand sich nämlich jenes kleine graue Heftchen eben dieser Spoerri'schen 'Topographie anecdotée du Hasard' von 1962 mit der Widmung der Meret Oppenheim an Daniel Spoerri und eben jener aufklappbaren Tafel mit der Grundrisszeichnung des Tischchens. Aber diese Planzeichnung ist beklebt mit einer dünnen Zellwollschicht - keine 15 cm stark, wie in der Widmung angekündigt - aber so angelegt, dass sie nur solche Gegenstände aussparte, die länger als 15 cm hochgestanden hätten, wenn es sie denn noch gegeben hätte. Wie dieses offensichtlich Spoerri dedizierte Heftchen in den Nachlass der Kölner Galerie fand, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Vermutlich hat Spoerri es einmal bei Stünke vergessen, als man sich wieder einmal wegen der Edition MAT traf. Nun also war es wieder da, und Udo Seinsoth gab es dem rechtmäßigen Besitzer anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung in Bremen zurück.
Zum Glück war der Unterzeichner von diesem Wiedergutmachungsakt unterrichtet und bat alsbald den glücklichen Künstler um die Leihgabe dieses Oppenheim Werkes zum Zwecke der Anreicherung des musealen Materials. Und so hängt es nun unter dem Original als sichtbare Aneignung der großen Schweizer Künstlerin und Kommentar eines Kunstwerkes eines anderen Schweizer Künstlers. Dank dieser Wiederauffindung konnte sie dann in der ersten britischen Ausgabe der 'Topography' unter der uns schon bekannten Höhenliste abgebildet werden (Seite 203).
Aber zurück zur Topographie:
Unter einem P.S. zu einer „Parfümflasche; Eisenkraut - Kölnisch Wasser, Nr. 62“ erwähnt Spoerri eine Ausstellung in einem Koffer, die er 1961 als seinen Beitrag einer Ausstellung „bei einem schrecklich modernistischen Architekten“ zusammengestellt hat mit Werken von Arman, César, Deschamps, Hains, Raysse, Niki de St. Phalle, Tinguely und de la Villeglé. Robert Rauschenberg, der sich damals in Paris aufhielt, lieferte das Schloss, den Koffer zu verschließen, bestand aber darauf, dass der Schlüssel weggeworfen werden sollte. So geschah es auch. Das führte allerdings dazu, dass das Schloss bei der Vernissage mühsam wieder aufgesägt werden musste. Dieses Miniaturmuseum ließ den Freund Robert Filliou natürlich nicht ruhen. Er erfand flugs eine noch kleiner Version einer Ausstellung, die sog. 'Galerie legitime', die in seiner Baskenmütze Platz fand, und anschließend auch in der Sammlung Gerstner im Neuen Museum Weserburg.
Für die amerikanische Ausgabe hatte Roland Topor, der Zeichner, Theaterautor, Bühnenbildner und Schauspieler, einer der skurrilsten Künstler überhaupt, zu der Topographie kleine Kapitelvignetten beigesteuert, die in die britische Ausgabe von 1995 (erschienen bei Atlas Arkhive Four - Documents of the Avant-Garde, London) wieder abgedruckt wurden. Spoerri verfasste eine neue Einführung - die Dritte - und enthielt sich auch sonst nicht zahlreicher Kommentare und Fußnoten zum bisher erarbeiteten Material.
In dieser neuen Edition wurde auch ein seltener 'archäologischer' Fund bestätigt. Auf der Original-'Topographie' im Neuen Museum Weserburg befindet sich, wie wir oben bereits feststellen konnten, neben dem Lineal eine Bronzemünze des Künstlerfreundes Jean Tinguely (Nr. 75). Soweit die Nachforschungen in England ergeben haben, ist diese Münze vermutlich die letzte Erhaltene, die der Schweizer Künstler für 3 NF bei der 'Metamatic-Ausstellung der Galerie Iris Clert, Juni 1959, verkaufte. Sie diente dazu, seine Malmaschinen in Betrieb zu setzen. Alle anderen sind, so will es scheinen, verloren gegangen oder werden vielleicht in den Sammelalben der Münzfreunde als Rarissimae bewahrt. Die Malmaschinen ließ sich Jean Tinguely übrigens, wie man in der Topographie nachlesen kann, patentieren.
Von Tinguely ist auch der Metamalewitsch in der Sammlung Gerstner. Dieses Rotorrelief gehörte einst Daniel Spoerri. Er verkaufte es dem Freund und Sammler Karl Gerstner, um von dem Erlös ein Jahr auf der ägäischen Insel Symi in sich gehen zu können. Ein Produkt dieser Zurückgezogenheit war ein weiteres Buch des Daniel Spoerri, dessen drittes Kapitel, das 'Gastronomische Tagebuch' auf eine bislang noch nicht erwähnte Fassette des Künstlers hinweist, auf den leidenschaftlichen Koch, Sammler und Erfinder der normalsten, absurdesten, abgelegensten, simpelsten, kompliziertesten und zugleich schmackhaftesten Rezepte und nicht zuletzt auch Inhaber der ersten und einzigen Eat Art Galerie in Düsseldorf der 70er Jahre. Das ganze Buch erschien wieder bei der Something Else Press in New York 1970, übersetzt aus dem Französischen von Emmett Williams unter dem präzisen Titel: 'The Mythological Travels of a modern Sir John Mandeville, being an account of the Magic, Meatbals and other Monkey Business, Peculiar to the Sojourn of Daniel Spoerri upon the Isle of Symi together with divers speculations thereon.' Dem ist kaum noch etwas zuzufügen.
Nun also liegt wieder eine deutsche Version der Topographie vor, inzwischen auf 220 Seiten erweitert. Aber ich vermute einmal: diese Geschichte der Adaptionen, Aneignungen, Zitate, Überarbeitungen und Kopien ist sicherlich noch lange nicht zu Ende.
Fußnoten
(*) für Katalog Originale echt / falsch, Bremen 1999 [zurück]
(1) Ausstellung und Katalog: 'PRODUKT KUNST, Wo bleibt das Original?' Neues Museum Weserburg Bremen, 1996 [zurück]
(2) Katerina Vatsella: Edition MAT: Die Entstehung einer Kunstform. Daniel Spoerri, Karl Gerstner und das Multiple, Bremen 1998 [zurück]