3. Begriff und Theorie der Information
Exkurs
Wissenschaften entstehen
- aus der Beschäftigung mit neuen Gegenständen
- aus neuem Erkenntnisinteresse
- aus Evaluierungsinteresse an Methoden
- aus gesellschaftlichen Bedürfnissen
Entwicklungskräfte der Informationswissenschaft
Entwicklungsstationen der Informationswissenschaft
USA: Ende der 50er Jahre
Erste Verwendung der Bezeichnung information science
Quelle: H.M. Weisman: Information and the disciplin of communication science. In: Levels of interaction
between man and information. Proceedings of the American Documentation Institute Vol 4,
1967, 8-12
USA: 1961/ 1962
Conference on Training Science Information Specialists
"Information science" is "the science which investigates the properties and behaviour of information, the forces governing the flow of information, and the means of processing information for optimum accessibility and usability. The processes include the origination, dissemination, collection, organization storage, retrieval, interpretation, and use of information."
Quelle: Dolan, F.T.: The role of the information scientist. In: Int. Journal for Man-Machine Studies (1969) 1 ff.
UdSSR: 1966
A.I. Michailov / A. I. Cerny / R. S. Giljarevski:
"Informatik ist eine wissenschaftliche Disziplin, die Struktur und Eigenschaften (nicht jedoch den konkreten Inhalt) wissenschaftlicher Informationen untersucht sowie die Gesetzmäßigkeiten der wissenschaftlichen Informationstätigkeit, ihre Theorie, Geschichte, Methodik und Organisation erforscht."
Quelle: Russ. Original 1966, dt. Übersetzung: Informatik - eine neue wissenschaftliche Disziplin,
in Informatik 16 (1969) 5-11
Michailov / Cerny / Giljarevski: "Ziel der Informatik ist die Erarbeitung optimaler Methoden und Mittel der Darbietung, der Erfassung, der analytisch-synthetischen Bearbeitung, der Speicherung, der Recherche und der Verbreitung wissenschaftlicher Informationen. Die Informatik befaßt sich mit semantischen Informationen, jedoch nicht mit der Bewertung dieser Informationen.
Michailov / Cerny / Giljarevski: Die Informatik befaßt sich (ausschließlich) mit "im Erkenntnisprozeß gewonnener logischer Information, die die Gesetzmäßigkeiten der objektiven Welt adäquat widerspiegelt und in der gesellschaftlichen ... Praxis Anwendung findet." (im Vordergrund stehen die WI = wissenschaftl. Informationen bzw. die WTI = wiss.-technischen Informationen)
Die Informationswissenschaft ist den Sozialwissenschaften zuzuordnen.
USA: 1967
Harold Borko (System Development Coporation, Santa Monica, Cal.):
"Informationswissenschaft ist die Disziplin, die die Eigenschaften und das Verhalten von Informationen, die Kräfte, die den Informationsfluß beherrschen, und die Mittel der Informationsverarbeitung mit dem Ziel optimaler Zugänglichkeit und Nutzbarkeit untersucht."
Quelle: Informationswissenschaft: Was ist das? In: Nachrichten für Dokumentation 19 (1968) 59-61,
(Original engl. in Americ. Doc. 1968, 3-5). Borko wiederholt die Definition von 1961/62
Harold Borko: "Die Informationswissenschaft beschäftigt sich mit dem Bestand an Wissen, der sich auf
- Entstehung
- Sammlung
- Ordnung
- Speicherung
- Wiederauffinden
- Deuten
- Übertragung
- Umformung
- Verwendung
von Informationen bezieht." (Inf.-Wiss. als Methodenwissenschaft)
Harold Borko: "Sie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich von Gebieten herleitet ... wie der
- Mathematik
- Logik
- Linguistik
- Psychologie
- Computertechnik
- Operations research
- Kommunikationswesen
- Bibliothekswesen
- Management
- u.a. ...
Sie hat eine rein wissenschaftliche Seite. ...
und eine angewandt wissenschaftliche Seite."
Borkos Auffassung der Informationswissenschaft als technisch/methodischer Superwissenschaft stand zu gleicher Zeit ein allerdings weniger beachteter, mehr die "sozialwissenschaftliche Komponente" unter-streichender Ansatz von Hoshovsky/Massey gegenüber:
"Informationswissenschaft umfaßt jenen Bestand an Wissen, nämlich an Beschreibungen, Theorien, Techniken der die Mittel zur Deckung des Informationsbedarfs der Gesellschaft verstehen hilft und zugleich wie Informationsbedarfs-Ermittlung und -Deckung verbessert werden können."
Quelle: Information science: Its ends, means and operations. In: Inf. Transfer, New York 1968
USA: 1967
Das American Documentation Institute wird umbenannt in American Society for Information Science (ASIS)
BRD: 1968
Erich Pietsch:
"Die Untersuchung des Begriffswandels von Dokumentation und Information hat uns zu der Frage nach der Bedeutung dieser Bereiche als wissenschaftliche Disziplinen geführt. Damit stehen wir vor einer echten Forderung an den Informator: er muß Wissenschaftler sein und er bedarf der systematischen Erfahrung in der Informationswissenschaft ...
Dokumentation und Information erscheinen als eigene Disziplinen, die an den Hochschulen systematisch zu lehren sind."
Quelle: Dokumentation und Information auf dem Wege zur Wissenschaft. In: Nachr. für Dok. 19 (1968) 199-207
DDR: 1968
J. Koblitz:
"Wir sind Zeugen der Entstehung einer neuen Wissenschaftsdisziplin, der Informations- und Dokumentationswissenschaft".
Ihr Gegenstand:
- "alle spezifischen Bereiche der Informations- und Dokumentationsarbeit
- eine Reihe von Fragen theoretischer Art, die auch für andere Wissenschaften
- von Interesse sind
- die Verbindung der Information und Dokumentation zu anderen Arbeitsgebieten, sowie
- die Beziehung der Informations- und Dokumentationswissenschaft zu anderen Wissenschaften"
J. Koblitz betont den Bezug der "Informations- und Dokumentationswissenschaft" zur gesellschaftlichen Praxis.
Entwicklung des Sozialismus durch:
- Förderung wissenschaftlicher Erkenntnisse
- Planung
BRD (Berlin): 1968
Hans Werner Schober / Gernot Wersig:
"Den Gegenstand (der Informations- und Dokumentationswissenschaft) bilden Kommunikationssysteme, die darauf abzielen, eine abzugrenzende Menge von Individuen hinsichtlich zu definierender Problemkreise möglichst redundanzlos und effektiv zu informieren."
Quelle: Informations- und Dokumentationswissenschaft. In: Nachr. f. Dok. 19 (1968) 116-124
Schober / Wersig
"drei soziale Postulate machen eine derartige Wissenschaft notwendig:
- Komplexität der Gesellschaftssysteme zunehmend erschwert
- Streben aller Geseelschaftsformen danach, ihren Gesellschaftsmitgliedern in größtmöglichem Umfang die Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu ermöglichen
- Notwendigkeit, Erkenntnisse möglichst schnell und effektiv zu verbreiten, um Welt verändern zu können."
(die Autoren streben "eine möglichst scharfe Abgrenzung zur Publizistikwissenschaft an)
DDR: 1969
Das offizielle Organ des "Zentralinstituts für Information und Dokumentation", die ZIID-Zeitschrift, wird in Informatik umbenannt.
DDR: 1970
J. Koblitz:
Gegenstand der Informations- und Dokumentationswissenschaft ist die "Information und Dokumentation ... ein Arbeitsgebiet der Fachinformation, dem die Erzeugung, Speicherung, Suche und Verbreitung faktographischer (dokumentalistischer) Informationen analytischen und synthetischen Charakters auf dem Wege der allgemeinen und gezielten Information obliegen."
J. Koblitz: Aufgabenstellung der Informations- und Dokumentationswissenschaft: "umfassende, systematische, thematisch möglichst gezielte und aktuelle Informationen über neue Erkenntnisse, Erfahrungen, Auffassungen, Vermutungen, Hypothesen, Festlegungen, Weisungen, Prognosen, Pläne, Arbeitsergebnisse, Berichte usw. (im weiteren Erkenntnisse und Erfahrungen) zur Befriedigung des Bedarfs der Nutzer an sekundären und tertiären faktographischen Informationen."
Quelle: Der Gegenstand der Informations- und Dokumentationswissenschaft, Informationswissenschaft und Informatik. In: Informatik 17 (1970) 2, 12-21; 3, 22-26
J. Koblitz gliedert (unter dem Einfluß von Michailov) 1970:
- Informationswissenschaft (theoretische Grundlagen)
- Informatik (Wissenschaft von den I-Prozessen)
- Informations- und Dokumentationswissenschaft (Verarbeitungsmethodik)
J. Koblitz (FID-Kongreß in Moskau 1974)
Eingliederung d.er Informationswissenschaft in die Hierarchie der Wissenschaften (nach Koblitz)
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BRD: 1969 (Gutachten für den Forschungsminister)
1972 (publiziert und damit allgemein wirksam)
Werner Kunz / Horst Rittel:
"Die Informationswissenschaften sind eher ein Fachbereich als eine einzelne Disziplin. Es gibt viele Arten von Informationswissenschaften, spezialisiert durch die Art der Informationssysteme an welchen sie arbeiten. Einige dieser Spezialisierungen existieren seit langem (z.B. Dokumentations- und Bibliothekswissenschaft) andere sind gerade im Entstehen, weitere sind in naher Zukunft zu erwarten."
Kunz / Rittel: "Gegenstände der Informationswissenschaften sind Informationsprozesse; ebenso die Einrichtungen, welche Informationsprozesse ermöglichen, auslösen und unterstützen sollen. Diese Einrichtungen werden Informationssysteme genannt."
Quelle: Die Informationswissenschaften. Ihre Ansätze, Probleme, Methoden und ihr Aufbau in der Bundesrepublik Deutschland, München/Wien 1972
(Der Ansatz ist beinflußt von der General Systems Theory)
Kunz/Rittel
- beschränken sich nicht nur auf wissenschaftlich-technische Information
- behandeln Information in kommunikativem Zusammenhang
Informationswissenschaften sind Kommunikationswissenschaften
Kunz/Rittel: Die Informationswissenschaften (Plural) "sind keine Metawissenschaften, ... Sie sind auch nicht eigentlich interdisziplinär: sie sind Brückenwissenschaften zwischen verschiedenen Disziplinen, zwischen Wissenschaften und Technologien, zwischen Forschung und Praxis."
Schaubild: Rekonstruktion der "Informationswissenschaften" nach Kunz/Rittel
BRD: 1971
Alwin Diemer
"Als Wissenschaft vom Informem im allgemeinen und dem Informationsprozeß in seiner Differenzierung der Erstellung, Vermittlung und Rezeption vom Informem im besonderen ist die Informationswissenschaft eine Wissenschaft sui generis. In der Kommunikation sind die Aussagen über Sachverhalte "situationskontextuell bestimmt und vergänglich (Proposeme")". Sollen sie überdauern, so müssen sie sich entsprechend manifestieren. Damit werden sie zugleich situations-unabhängig und gewinnen zugleich Eigenexistenz. Es entsteht so eine Art neuer Wirklichkeit, der dargestellte Sachverhalt als Proposem wird nun zum Informem. Das Informem - die "Information" - wird damit bestimmt als der in einer eigenständigen Weise dargestellte Sachverhalt bzw. das verselbständigte Sachverhaltsproposem, das nun - idealiter ... - allen, überall und allezeit gleicherweise zur Verfügung steht bzw. zugänglich ist."
Quelle: Informationswissenschaft. In: Nachr. f. Dok. 22 (1971) 105-113
Diemer
- Denken erzeugt Noeme (Denkeinheiten)
- In der situations-kontextuellen und vergänglichen Kommunikation werden Noeme durch Proposeme (Aussageeinheiten) vermittelt
- Sollen Proposeme überdauern müssen sie situations-unabhängig dargestellt (fixiert) werden
Aus Proposemen werden Informeme
BRD: 1976/78
Norbert Henrichs:
Informationswissenschaft: "Wir verstehen sie als Wissenschaft von der Organisation der Informationsvermittlungsprozesse
Organisation meint dabei
- Maßnahmen zur Beherrschung aller Vorgänge der Zugänglichmachung/Verfügbarkeit, d.h. aber auch der Vermittlung von Wissen und zugleich
- die Institutionalisierung dieser Vermittlung."
Henrichs (1976/78)
Gliederung der Informationswissenschaft
- Allgemeine Informationswissenschaft
- 1. Wissenschaft von den Grundlagen der Informationsvermittlungsprozesse
- Konstitutionstheorie der Information
- Konstitutionstheorie der Informationsvermittlung
- 2. Wissenschaftstheorie der speziellen und angewandten Informationswissenschaft
- 1. Wissenschaft von den Grundlagen der Informationsvermittlungsprozesse
- Spezielle Informationswissenschaft ("Informationswissenschaften")
Wissenschaft spezieller Informationsvermittlungsprozesse- z.B. i.S. von
- "überliefern" von Inf.: Archivwissenschaft
- "versorgen" mit Inf. (Literatur): Bibliothekswissenschaft
- "nachweisen" von Inf.: IuD-Wissenschaft
- "präsentieren" von Inf.: Museumswissenschaft
- Übersetzungs-Wissenschaft
- Editions-Wissenschaft
- Journalistik
- Medienwissenschaft
- Filmwissenschaft
- Statistik
- Angewandte Informationswissenschaft
- Wissenschaft
- fachbezogener
- aufgabenbezogener
- Informationsvermittlungsprozesse
- z.B. in der Medizin
- Chemie
- Politik
- z.B. in organisationeller Umgebung
- Wissenschaft
Anpassung an jüngere Entwicklungen:
Der Begriff der (Fach-)Informationsvermittlungsprozesse wird erweitert und ersetzt durch den Begriff Fachkommunikation.
Der Begriff der Organisation wird verdeutlicht und ersetzt durch den Begriff Management.
Triadische Struktur der Informationswissenschaft
Informationswissenschaft ist Managementwissenschaft der Fachkommunikation
- Ist Informationswissenschaft (qua Wissenschaft) eine
- Aspektwissenschaft ?
- (wie Geschichte, z.B. Medizingeschichte,
"Wissenschaft der Chemieinformation",
"linguistische Informationswissenschaft") - Metawissenschaft ?
- (Teilbereich der Wissenschaftswissenschaft)
- Interdisziplin / Transdisziplin ?
- (Querschnittswissenschaft, an der zahlreiche Einzelwissenschaften beteiligt sind)
Gesellschafts- bzw. Kulturwissenschaftlicher Teilbereich ?
Die Antwort bleibt derzeit offen.